(03.05.2021, C. Brauner, R. Rosenboom, C. Kiencke)

Im ersten Teil des Artikels haben wir einen kurzen Einblick in die Earned Value Analyse gegeben und gezeigt, welche Informationen daraus abgeleitet werden können. Im zweiten Teil werden wir nun erklären, wie die Earned Value Analyse dazu beitragen kann, die besonderen Herausforderungen von Offshore-Projekten zu meistern.

Sehr hoher, kostspieliger Ressourcenaufwand

Der Ressourcenaufwand ist vor allem bei Offshore-Projekten sehr hoch. Dadurch, dass die Tagesätze meist höher sind (bei 12 h-Arbeitszeit) und den damit verbundenen sehr hohen Transport- und Unterbringungskosten ist jede Stunde Arbeitszeit ohne zu untertreiben „Gold“ wert. Die Earned Value Analyse kann sehr schnell aufzeigen, ob der Arbeitsfortschritt wie geplant ist oder ob es zu Verzögerungen kommt. Zumeist auf Tagesbasis wird verfolgt, ob der Fortschritt dem Plan entspricht, indem aufgezeigt wird, ob der Arbeitsplan erfüllt worden ist. Wenn für einen Tag mit 30 Mitarbeitern der Fortschritt aufgenommen wird, dann gibt die Earned Value Analyse einen Wert zurück, der auf der ursprünglichen Planung resultiert. X % Fortschritt gibt eventuell einen Value von 20 Mitarbeitertagen zurück. Die Analyse liefert Zahlen, Daten und Fakten, welche Grundlage für objektivierte Diskussionen sind. Wenn das Projekt aus dem Ruder läuft, wird dies sehr frühzeitig sichtbar gemacht.

Herausfordernde Kommunikation durch wechselnde Teams (Back-to-back Teams)

Der Offshore-Bereich ist durch sehr internationale Teams geprägt. Die Mitarbeiter haben sehr unterschiedliche Hintergründe und Herangehensweisen bei der Führung von Teams. Mit der Earned Value Analyse hat man ein einheitliches Reporting Tool, welches den Fortschritt grafisch aufzeigt. So unterschiedlich die Mitarbeiter Offshore auch sind – alle haben einen technischen Hintergrund und verstehen die grafischen Darstellungen.

Remote Teams

Auf einer Offshore-Baustelle ist es schwer sich als Projektleiter persönlich ein Bild vom Fortschritt zu machen. Das Reporting läuft über die Bauleiter vor Ort. Daher liefert diese Analyse deutlich den Aufwand, der dem jeweiligen Fortschritt gegenübersteht. Während ein Bauleiter nach einer Woche noch behaupten kann „Das kriegen wir schon hin“, sieht die Argumentation nach einer weiteren Woche anders aus, wenn mit dem geplanten Ressourceneinsatz nur beispielsweise 50 % des Fortschritts aufgezeigt wird. Die Analyse spuckt dann nämlich sofort aus, dass für 100 % des geplanten Fortschritts das doppelte des Ressourceneinsatz notwendig ist. Bei limitierten Einsatzmöglichkeiten würde dies eine Zeitüberschreitung von 100 % bedeuten.

Projekte mit inhärenten hohen Risiken

Projekte mit hohen Risiken, bspw. Wetterrisiken, bergen ein hohes Streitpotential zwischen den verschiedenen Parteien. Mit der Earned Value Analyse bleiben Sie am Ball Baubehinderungen zu dokumentieren und zu quantifizieren. Auf die so dokumentierten Daten können Sie auch lange Zeit später noch wieder zurückgreifen, wenn das Projekt bereits abgeschlossen ist, aber die Claim-Manager die Claims noch abarbeiten.

Ein Selbstläufer ist die Analyse mitunter nicht, aber durch das Beachten der folgenden Erfolgsfaktoren kann diese Analyse ein wichtiger Bestandteil des Projektcontrollings sein:

  • Transparente und nachvollziehbare Bewertung der Arbeitspakete
  • Frühzeitige Einbindung der Analyse in die Planung
  • Transparente Bewertung des Arbeitsfortschritts
  • Regelmäßige Auswertung, Analyse und Bewertung

Transparente und nachvollziehbare Bewertung der Arbeitspakete

Die Bewertung der Arbeitspakete aus dem Projektstrukturplan sollte sehr transparent gestaltet sein. Die zugrunde liegenden Annahmen sollten einheitlich und dokumentiert sein. Es werden sich in der Analyse Abweichungen, mitunter auch systematische Abweichungen, ergeben. Das ist erstmal unproblematisch, solange die Bewertung einheitlich durchgeführt worden ist. Zu einem gewissen Zeitpunkt kann es notwendig sein eine Neubewertung durchzuführen und die Planung anzupassen.

Frühzeitige Einbindung der Analyse in die Planung

Wenn das Projekt in die Realisierungsphase geht, sollte die Analyse fertig aufgesetzt sein, sodass das Projektcontrolling ab dem ersten Tag durchgeführt werden kann. Wenn das System hakt, kann die Akzeptanz der Beteiligten schnell sinken. Es soll die Abläufe unterstützen und nicht ausbremsen.

Transparente Bewertung des Arbeitsfortschritts

Der tägliche Input sind der Arbeitsfortschritt und die eingesetzten Ressourcen. Letzteres ist generell leicht quantifizierbar. Der Arbeitsfortschritt ist in der Regel Grundlage für Diskussionen. Bei Back-to-back Teams kann durchaus beobachtet werden, dass das eine Team den Fortschritt für Arbeitspakete vorausnimmt und das nächste Team diesen Fortschritt erst erarbeiten muss. Dafür müssen klare Bewertungsregeln festgelegt werden. Wichtig ist aber auch hier, dass man dann schon auf einer kennzahlenbasierten Diskussion angelangt ist.

Regelmäßige Auswertung, Analyse und Bewertung

Für die erfolgreiche Umsetzung dieser Analyse ist es wichtig, dass die Auswertungen und Analysen täglich durchgeführt werden. So ist gewährleistet, dass keine Lücken und kein Datenstau entstehen. Die Durchführung der Analyse ist mit Arbeit verbunden, aber mit dem Ziel ein Frontloading zu fördern. Bei besonders kritischen Projekten ist eine tägliche Bewertung der Daten notwendig und Abweichungen konsequent zu hinterfragen.

Oft sagt das Bauchgefühl des Projektleiters „Das kriegen wir schon hin, das passt alles“. Doch die durch die Earned Value Analyse begründeten Zahlen, Daten und Fakten geben den tatsächlichen Aufschluss darüber, ob der Ressourceneinsatz ausreichend ist und ob die umgesetzten Maßnahmen in Bezug auf den Workflow greifen. Diskussionen mit Remote Teams können anhand der Auswertung versachlicht werden. Man schafft eine Grundlage für sachliche Reviews und verlässt Diskussionen à la „Das wird schon klappen!“. Das Verfahren verringert den Interpretationsspielraum und bietet reproduzierbare Kennzahlen.

Als Teil des Projektcontrollings hat uns diese Analyse bereits sehr gute Dienste geleistet und zur Termin- und Kostensicherung beigetragen. Auf Risikorücklagen musste nicht zurückgegriffen werden und durch eine lückenlose Dokumentation hatte man gute Grundlagen für das Claim Management.

Quelle für die Earned Value Analyse: A Guide to the Project Management Body of Knowledge, Sixth Edition, 2017, Project Management Institute

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